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Artikel Nummer: 38182

Vom Leicht- zum Schwergewicht

«Die wichtigste Person ist immer die, mit der Du im Moment zusammen bist.» Lew Nikolajewitsch Graf Tolstoi (1828-1910), russischer Schriftsteller, Landwirt und Philosoph


 

 

Nein, es geht nicht um die durchschnittlich drei bis fünf Kilo Zusatzgewicht, die jeder von uns während der Shutdown-Phase zugelegt hat. Da hätten Sie als Leichtgewicht gute Karten, denn nach der Rangordnung im Rudern, Dreikampf oder Boxen würden Sie hier zwischen ca. 55 kg bis 62 kg Lebendgewicht einsortiert – für viele wohl eine Traumvorstellung unabhängig obwaltender Umstände. Wie der Designer Karl Lagerfeld richtig bemerkte: «Diäten sind das einzige Spiel, in dem wir gewinnen, wenn wir verlieren.»

 

Ich spreche jedoch von der oft unbemerkten Schwelle, die viele Menschen, die sich vorher gewollt oder ungewollt unsichtbar wähnten, plötzlich überschreiten – und zu bekannten Grössen werden.

 

Wir alle kennen den Anfang, der bekanntlich schwer ist. Ob Kindergarten, Schule, Militär, Ausbildung oder Beruf,  zunächst starten wir als Leichtgewichte. Gefühlt sind wir Atome inmitten einer unübersichtlichen Masse, in der sich alle ausser uns selbst unglaublich lässig und selbstsicher bewegen. Es braucht einige Zeit, bis wir die Regeln der neuen Gemeinschaft kennen und begreifen, dass Andere ihre Unsicherheit allenfalls besser bemänteln können. Nach neuester Erkenntnis stellt der Bluff in Gesellschaft übrigens eine positive Eigenschaft des Menschen dar, denn schon eine «glaubwürdige Selbstinszenierung» sei eine Leistung an sich, sagt der Soziologe Niklaus Luhmann. Nun ja. Ich weiss jetzt wieder, warum ich nicht Schauspieler gewonnen bin.

 

Aber wie wandeln wir die Pflicht, d.h. überlebenswichtige Konventionen, so in die Kür um, dass wir vom Leicht- zum Schwergewicht werden? Im Beruf heisst es oft, man solle geduldig sein, als neuer Kollege respektiert zu werden, sei nur eine Frage der Zeit. Aber stimmt das wirklich? Es ist sicherlich so, dass langfristig aus Höflichkeit Freundlichkeit und aus Fairness Teilhabe werden können. Es ist allerdings auch belegt, dass Menschen respektlos werden, sobald sie Erfolg haben. Harte Köpfe dieser Art, die wir alle kennen, pflegen nicht durch den Zahn der Zeit von ihrer Meinung über jemand abzuweichen, den sie als quantité négligeable empfinden. 

 

Genau so ist Akzeptanz aufgrund von Nützlichkeit ein unsicheres Feld. Einerseits werden auch hohe Leistungen durch Dritte schnell als selbstverständlich wahrgenommen, andererseits fällt Sympathie schnell zusammen, sollte diese Leistung nicht mehr stimmen. Ob der Ausdruck nun von Lenin stammt oder nicht, man mutiert eben auch manchmal zum nützlichen Idioten. Ich meine hingegen, dass der Übergang zum Schwergewicht zweistufig ist. Zum einen geht es um die grundsätzliche Akzeptanz unserer Person gegenüber, die gefragt wird, ihre Meinung sagen kann und an Entscheidungsprozessen beteiligt ist, auch wenn sie unterliegt. Das ist oft schwieriger, als es klingt, denn die Interaktion aller ist hierfür vonnöten. Sozialphilosophen wie Pierre Bourdieu sprechen hier auch – zugegebenermassen etwas dramatisch – vom «Kampf um das symbolische Kapital der Gleichwertigkeit».

 

Die zweite Stufe hat ausschliesslich mit unserer eigenen Aufmerksamkeit zu tun. Meiner Erfahrung nach trägt jeder Mensch das Zeug zum Schwergewicht in sich. Es kommt einzig darauf an, in der richtigen Situation so viel Respekt der Gruppe zu geniessen, dass man seineFähigkeiten zugunsten aller ausspielen darf und kann. Beeindruckend fand ich das Zitat der Werbefachfrau Linda Kaplan Thaler: «Man sollte jeden, dem man begegnet, so behandeln, als ob er die wichtigste Person der Welt wäre – weil sie es ist. Wenn nicht für Dich, dann für jemand anders, und wenn nicht heute, dann vielleicht doch morgen.»

 

Christian Doepgen

 

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