Der Blick von aussen
«Köpfe haben Dünkel, Herzen haben Winkel. Prüfe, was Du siehst.» Friedrich von Logau (1605-1655), Dichter des Barock unter dem Pseudonym Salomon von Golaw
Das quicklebendige Faultier in unserem Innern greift in seiner Darstellung nach Aussen gern auf die Rolle des Gewohnheitstiers zurück. Wenn 95% unserer täglichen Abläufe wie eingespielte Rituale ablaufen, entlasten wir nachweislich unser Hirn und schaffen Raum für die wirklich wichtigen Denkprozesse. Eine solche Fokussierung hat schon grossartige Ergebnisse gezeitigt, wie der kürzlich verblichene Colin Powell, der einen wirklich beeindruckenden Weg als Migrantensohn aus der Bronx zum US-amerikanischen Generalstabschef und Politiker beschritten hat, einmal ausführte: «Um in grossen Dingen Exzellenz zu erreichen, muss man Gewohnheiten in den vielen kleinen Dingen entwickeln.»
So weit, so gut. Was aber, wenn die eingefahrenen Routinen die Oberhand gewinnen und dieser gewonnene Freiraum gedanklich nicht genutzt und ausgefüllt wird? Dann sind wir in der Gegenwart vieler angelangt, von der wir uns auch nicht freisprechen können. In diesem Fall tritt dann der so genannte bürokratische Dreisatz in Kraft, ob im privaten oder beruflichen Umfeld: Das haben wir schon immer so gemacht, das wird immer so bleiben, könnte ja jeder kommen. Auf diese Weise wird durch Bequemlichkeit so manche Fehlentwicklung als «normal» betrachtet, wenn nicht sogar als «alternativlos».
Es wird wenig überraschen, das aus einer solchen Weltsicht, die wir alle auf Nachfrage natürlich weit von uns weisen würden, irgend etwas Neues erwächst. Wie also entgehen wir diesem Risiko geistiger Erstarrung? Üblicherweise empfehlen Experten einen Mix aus objektiver Selbstkontrolle, regelmässiger Selbstkritik, stetiger Wachsamkeit und nimmermüder Neugier.
Sie haben recht, ich bin gemein: Jedes einzelne dieser Worte ist ein Widerspruch in sich und ganz sicher kein taugliches Rezept für unseren mehr oder weniger stressigen Alltag. Und Routinen können zähe Gegner sein, wie es der US-Humorist Mark Twain unnachahmlich ausführte: «Eine Angewohnheit kann man nicht aus dem Fenster werfen. Man muss sie die Treppe hinunterprügeln, Stufe für Stufe.»
So einfach ist die Frage also nicht allein aus uns selbst heraus zu beantworten. Verlässlicher erscheint mir dagegen ein ganz anderes Mittel: Der Blick von aussen – und zwar am besten von Leuten, die unser Thema oder unseren Bereich kaum kennen. Auf diese Weise kommt häufig der beste Austausch zustande, wie Gautam Mukunda, Assistant Professor an der Harvard Business School, in einer Studie belegte. Über Erfahrungsschatz und Wissensvorsprung siegt nach seiner Analyse immer noch der unverstellte Blick des Seiteneinsteigers. Ein Dritter, der uns unverblümt seine Meinung sagt, bringt uns oft am weitesten.
Es geht bei diesem «Raus aus der Deckung» nämlich nicht um reine Debattierfreude. Erst der Blick von aussen deckt die blinde Flecken gemeinsamer Denk- und Verhaltensmuster auf. Natürlich tut uns allen nicht nur die Wahrheit, sondern oft auch das Abschiednehmen von lieb gewonnenen Gewohnheiten weh. Aber am Ende weicht der kritische Kommentar zur vorgefundenen Gegenwart oft der begeisternden Aussicht auf schlummernde Potentiale und ungeweckte Talente. Und das ist den Prozess wert.
Das ist Ihnen zu abstrakt? Dann wünsche ich Ihnen viel Spass mit dem Experiment, das nämlich einen Kontrollverlust bedeutet. Sie lassen einem Dritten die völlige Freiheit, ihre Tätigkeit zu beurteilen. Und wenn sich gar das Resultat mit ihren Ahnungen deckt? Dann liegen Sie richtig, frei nach der Autorin Esther Kleppen: «Kritik von aussen ist die beste Antwort auf Zweifel von innen.»